Es war ganz sicher der verrückteste Herbst in der fast 200-jährigen Geschichte unseres Weinguts. Sogar nachts wurden die Jacken zuhause gelassen, denn selbst wenn es nicht so warm gewesen wäre, ins Schwitzen wären wir trotzdem gekommen. Aber fangen wir vorne an:

Winter

Noch im alten Jahr hatten wir uns entschieden, unseren Qualitätsanspruch beim Rebschnitt weiter durchzusetzen. Auch die Weinbergslagen unserer Gutsweine wurden zugunsten der Traubenqualität auf eine Rute mit wenigen Augen geschnitten. Trotz der vorangegangenen trockenen Jahrgänge wollten wir Krankheiten, die durch Windstille und Feuchtigkeit entstehen vorbeugen. Weniger überschneidender Bewuchs und geringere Dichte sollen gleichzeitig sicherstellen, dass die Reben ausreichend Kraft in die verbleibenden Triebe stecken können. Diese Entscheidung sollte uns noch zugute kommen.

Die erste Überraschung des Weinjahres und einen kleinen Ausblick auf das was noch kommen sollte gab es dann bereits beim Biegen der Ruten Mitte-März: Lufttemperaturen bis 20° bei blauem Himmel. Was sehr angenehm klingt, löst bei uns Winzern eher Ängste aus, denn ein früher Austrieb erhöht das Risiko auf Frostschäden massiv. Kurz darauf hatten sich die Temperaturen aber vorerst wieder normalisiert und lagen Ende März mit 10-15° nah am Jahresdurchschnitt. Noch herrschte Ruhe im Weinberg.

8. April, Goldenes Horn
30. April, Schlosshölle

Frühling

Am 8. April meldete unser Sensor in der Siefersheimer Heerkretz dann eine Lufttemperatur von 26,73°, was selbst für diese warme Lage rekordverdächtig ist. Der Rest der Woche war an den Nachmittagen nicht wesentlich kälter, sodass am 10.4. die ersten Blätter aus den Knospen platzten. Ergiebige Niederschläge ließen weiter auf sich warten, dennoch ging es in der Entwicklung rasant weiter. Eine Woche später hatten sich schon zwei Blätter entfaltet und bis zum Ende des Monats waren es flächendeckend sechs.

Unsere Region ist glücklicherweise immer ein bisschen später in der Entwicklung, weshalb wir in den vergangenen Jahren weitestgehend von Schäden durch Spätfrost verschont blieben. In der Nacht auf den 12. Mai jedoch ging die Temperatur in Gumbsheim laut unserer Wetterstation auf -2°C zurück und uns war klar, dass einige Reben am Fuß des Südhangs es nicht geschafft haben würden. Der Sensor steht in der Mitte des stark ansteigenden Weinbergs, also einige Meter höher als der Kältestau am Fuß, wo es sicher noch ein Grad oder zwei kälter gewesen sein dürfte. Während der Begehung – es herrschte bereits wieder T-Shirt Wetter – verabschiedeten wir uns von gut einem Drittel unseres 2020er Chardonnays. Zum Glück blieben weitere Fröste aus. Andere Regionen waren sehr viel härter betroffen. Die Bilder sind immer wieder ein Trauerspiel und machen betroffen.

17. Mai, Schlosshölle
30. Mai, Schlosshölle

Schon Ende Mai stand fast jede Weinbergslage in voller Blüte. Bis auf ein paar mikrige Niederschläge zu Beginn des Monats blieb es den ganzen Wonnemonat über knochentrocken. Wir entschlossen uns dazu die Zwischenbegrünung in besonders trockenen Lagen aufzulockern um den wenigen Niederschlägen das Eindringen in den Boden zu erleichtern.

Sommer

Eine Woche nach Pfingsten, um den 8. Juni herum, war die Blüte in den meisten Weinbergen beendet und die gute alte 100-Tage Regel zur groben Vorhersage des Lesezeitpunktes sollte sich später mal wieder als ziemlich treffsicher erweisen. Einige wenig ergiebige Regenschauer zogen durch Rheinhessen und viele davon an uns vorbei. Von den wuchsfördernden nassen Sommermonaten, wie sie für deutsche Anbaugebiete charakteristisch sind, war, wie schon in den vorangegangenen Jahrgängen, wenig zu spüren. Die meisten Weinberge profitierten von der geringen Auslastung der Reben, den geöffneten Böden und dichten, schattigen Laubwänden.

Der Traubenschluss und die Färbung der roten Beeren setzten, wie nach der frühen Blüte zu erwarten war, früher als gewohnt ein. Schon in der ersten Augustwoche wurden viele Beeren weich oder hatten sogar schon etwas Zucker ausgebildet. Wir legten einen Zahn zu bei den Herbstvorbereitungen.

16.06., Heerkretz
07. August, Schlosshölle

Herbst

Es war Pauls erster Herbst als Kellermeister im Weingut Gebert und er hatte sich viel vorgenommen. Alles wurde noch akribischer gereinigt, neue Edelstahltanks für den separaten Ausbau weiterer Lagen wurden aufgereiht, alle Geräte eingehend auf Funktion geprüft. Mit ersten frühreifen Beeren im Mund begann dann die Detailplanung der Ausbaustile – mitten im Weinberg, wo das ganze Team noch enegiegeladen zur grünen Lese und zur Vorselektion zusammenkam. Unzählige dritte Trauben und Geize verließen uns und fanden Ihren Weg zurück in den Weinbergs-Kreislauf. Stellenweise wurde manuell entblättert um ein paar versteckten Trauben noch etwas mehr Reife mit auf den Weg zu geben. An lange Hosen war nicht zu denken, da kann die Lese ja noch nicht so bald sein, oder? Die erste Reifemessung war noch um einiges von den Zielwerten entfernt.

Als wir uns kurz darauf auf einen freien Tag freuten, der Traubenwagen poliert auf dem Hof stand, die Presse in der Sonne glänzte wie neu, wir also mit allen Vorbereitungen fertig waren, brachen wir zur Reifeprüfung auf. Das alte Cabrio, kurze Hose, Fahrtwind, laute Musik. Eigentlich ein Sommertag. Wir pflückten zum zweiten Mal 100 Trauben aus jeder Einzellage, probierten und staunten. Die Reifung ging mit riesigen Schritten voran. Man bekam den Eindruck die Natur bemühte sich auf den letzten Meter um die 100-Tage-Regel noch einzuhalten.
Zurück im Weingut maischten wir die Trauben ein und gaben den Saft auf das Digitalrefraktometer, das uns die Zuckerwerte der einzelnen Lagen verrät. Die stärker vorselektionierten Reihen für den Lagen-Riesling aus der Heerkretz reiften schneller als die Übrigen, was uns freute. Die roten Sorten profitierten sehr von der trockenen Wärme und reiften schön aus. Aber: Statt dem üblichen Grad Oechsle Zuckerzuwachs am Tag waren es fast überall zwei. Der Gewürztraminer in unserer steilsten Südlage reifte noch schneller. An Feierabend war jetzt nicht mehr zu denken und mit groben Hochrechnungen starteten wir noch am gleichen Abend in die Planung der Lesetermine.

2. September, Heerkretz
18. September, Goldenes Horn

Bei derartigen Temperaturen (am 15. September waren es noch 32°) sollte man die Lese tagsüber vermeiden. Gehen die Trauben zu warm in die Gärung, muss man entweder zu Lasten der Umwelt aufwändig kühlen, oder es entstehen Fehltöne durch eine zu schnelle Gärung. Zugleich blieben aber nicht viele Tage übrig für die Lese von reifen, aber nicht zu süßen Trauben, aus denen elegante und fruchtige Weine entstehen. Unterschiedliche Lagen, unterschiedliche Rebsorten und unterschiedliche Ziel-Reifegrade entzerren das in den meisten Jahren, aber wenn die Reife so schnell voranschreitet, ist das auch bei vergleichsweise wenig Rebflächen eine Herausforderung.

Schon am ersten Lesetag war also echtes Teamwork gefragt. Tagsüber selektionierte ein Teil des Teams die Weinbergslagen vor, die von der Maschine gelesen werden sollten. In der Nacht wurden die kühlen Trauben dann geholt und verarbeitet. In den frühen Morgenstunden nach Anbruch des Tageslichts und bei noch mäßigen Temperaturen war dann das ganze Team mit der Handlese der Orts- und Lagenweine beschäftigt. Das ging eine ganze Woche so. Die ruhigste Zeit auf dem Weingut dürfte zwischen 23 und 2 Uhr gewesen sein, wenn alles wieder sauber und aufgeräumt war und sowohl die Trauben als auch die Teammitglieder versorgt waren. Danach klingelten schon wieder die ersten Wecker.

Bis zu drei Weinberge am Tag haben wir so gelesen. Die Reife der Trauben passte zu den Zielwerten und die Qualität selbst der maschinell gelesenen Trauben übertraf unsere Erwartungen. Die Zeit verflog, die Müdigkeit war jedem anzusehen. Wir nahmen Rücksicht aufeinander, klopften uns auf die Schulter, versuchten uns gegenseitig zu schonen wenn es nötig war. Das kam erstaunlich selten vor, denn die Stimmung im Team war hervorragend, eher euphorisch. Zum Essen, zur Planung und zum ein oder anderen Kelterbier kamen immer alle zusammen. Paul brachte Aufbruchsstimmung und viel neue Expertise mit, Anne ihr Organisationstalent und ihren unbändigen Fleiß, Jochen seine Erfahrung und den nötigen Pragmatismus. Lara war immer gutgelaunt zur Stelle, Jan war überall und nirgendwo, aber wegen seiner Musik immer leicht zu finden. Hätte Heidrun nicht ständig für Ordnung gesorgt, wären alle Küchen und Gemeinschaftsräume schon nach wenigen Tagen ein Schlachtfeld gewesen.

Es war ein Rausch. Die Temperaturen gingen gerade etwas zurück, da trudelte mit der Ankündigung einer großen Regenfront die nächste Deadline ein. Regen zur Lesezeit bedeutet entweder ein erhöhtes Risiko für die Gesundheit der verbleibendes Trauben oder mehr Wasser im Wein. Nicht mit uns, also im gleichen Tempo weiter. Nach nur 10 Tagen, am letzten regenfreien Tag, war auf einmal die letzte Beere im Keller. Der Heerkretz-Riesling hatte sich wie immer die meiste Zeit gelassen, fast das einzig normale an diesem Herbst. Zwei gärende Weißweine brauchten etwas Kühlung, die Rotweintrauben gärten „wie im alten Rom“ in den Maischebütten. Das geschäftige und laute Treiben wich langsam einem leisen Blubbern. Erste Most- und Federweißer-Proben waren schon sehr vielversprechend.

16. September, Schlosshölle
Sonnenuntergang am letzten Lesetag, Goldenens Horn

Jahrgangs-Fazit

Das Ziel leichte, elegante und fruchtbetonte Weißweine zu erzeugen war 2020 in Rheinhessen kein Leichtes und für uns nur mit vollem Einsatz zu erreichen. Es lässt sich absehen, dass die Weine mit etwas Reife eher aromatisch als filigran geprägt sein werden, aber es finden sich durchaus auch sehr feinfruchtige Weine in den Fässern. Das Klima zwang die Reben Ihre Nährstoffe aus den letzten Reserven des Bodens zu holen und wir erwarten, dass sich das in sehr lagencharakteristischen Weinen wiederspiegelt.

Die Bouquet-Rebsorten zeigen schon jetzt ein tolles Aroma und eine üppige Nase. Bei den weißen Burgundersorten reicht die Bandbreite von elegant (Weißburgunder) über fruchtig (Chardonnay) bis opulent (Grauburgunder). Die Rislinge, die als Cool-Climate-Rebsorte eigentlich am meisten unter den Bedingungen hätten leider müssen, überraschen allesamt durch enorme Fruchtigkeit und Saftigkeit bei erstaunlich sortentypischen Säurewerten. Erwartungsgemäß außerordentlich gut waren die Bedingungen für unsere Rotweine, insbesondere den Regent und den Spätburgunder. Die Aromen aus den vollreifen und gesunden Trauben überschlagen sich noch, werden sich aber über die kommenden Monate sortieren und den Jahrgang mit großer Sicherheit zu einem reifen lassen, an dem wir noch viele Jahre Freude haben werden.